Foto: Ute Kröncke

Pastor Georgi

Pastor Dr. Curt Georgi und die Johannisgemeinde in Stade

Aus der Frühzeit der Haushalterschaftsarbeit in Deutschland
Von Friedhelm Voges

(Veröffentlicht im Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte, 118. Band, 2020, S. 127 – 143)

Im Deutschen klingt der Begriff „Haushalterschaft“ leicht sperrig. Die englische Sprache tut sich mit der „Stewardship“ leichter, und es ist schwerlich ein Zufall, dass in der Frühzeit der Haushalterschaftsbewegung das englische Wort auch in deutschen Texten auftaucht. Dahinter steht in beiden Sprachen das Zitat aus dem 1. Petrusbrief: „Dienet einander, ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat, als die guten Haushalter der mancherlei Gnade Gottes“. Unter dieser Überschrift war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem in den USA ein Programm für den Gemeindeaufbau entstanden, das nach dem Krieg auch in Deutschland Eingang fand.1 Der vorliegende Aufsatz stellt ein besonders profiliertes Beispiel von Gemeindearbeit vor, das daraus erwachsen ist. In der Johannisgemeinde in Stade konnte Pastor Dr. Curt Georgi dieses Programm auch deshalb gut in die Tat umsetzen, weil es sich um eine Neugründung handelte. Die Johanniskirche wurde 1956 eingeweiht und musste auf Traditionen wenig Rücksicht nehmen. Daneben spielten Georgis Talente als Organisator und Motivator eine wichtige Rolle. Es wird zunächst sein Werdegang, dann die Stader Arbeit vorgestellt. Was hier nicht geleistet werden kann, ist eine breitere Bestandsaufnahme der Haushalterschaftsbewegung in Deutschland. Es sei aber daran erinnert, dass es im Haus kirchlicher Dienste in Hannover – früher: Amt für Gemeindedienst – bis 2004 einen Arbeitsbereich „Haushalterschaft“ gab, der kundige Beratung und Fortbildung für die Besuchsdienste anbot. Das ist für viele Gemeinden eine gute Unterstützung gewesen, doch verglichen mit dem ursprünglichen Anspruch, unter dem diese Arbeit aus den USA nach Deutschland gekommen war, lag darin eine heftige Reduktion.

Einer breiteren kirchlichen Öffentlichkeit wurde der Gedanke der Haushalterschaft durch die Vollversammlung des Lutherischen Weltbunds bekannt, die Landesbischof Lilje 1952 nach Hannover geholt hatte. Dieses Ereignis fand nicht nur in den Kirchen Beachtung, war doch Deutschland erst langsam auf dem Weg aus seiner Situation der Ächtung und Isolierung. Die Deutsche Bundespost gab eine 10-Pfennig-Sondermarke heraus. In den Arbeitsgruppen der Vollversammlung war die Haushalterschaft ein wichtiges Thema, und man wird davon ausgehen dürfen, dass die Berichte darüber in den Gemeinden auch Aufmerksamkeit fanden. Dafür spricht jedenfalls die Veröffentlichungspraxis. Zunächst erschien ein „Offizieller Bericht der Zweiten Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes“, der aber schnell vergriffen gewesen sein muss. Unter dem Titel „Das lebendige Wort in einer verantwortlichen Kirche“2 wurde das Dokument ein weiteres Mal aufgelegt – von der gleichen Druckerei und mit dem gleichen Satz. „Offizieller Bericht der Zweiten Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes“ ist inzwischen der Untertitel. Der Bericht der Sektion IV über „Evangelisation und Haushalterschaft“ ist nur ein Teil des Dokuments, nimmt aber mit 24 Seiten den größten Raum ein. 

In der NS-Zeit war man von internationalen Entwicklungen weitgehend abgeschnitten gewesen. Jetzt hörte man gern auf Impulse von außen, zumal zunehmend deutlich wurde, dass alte Strukturen an ihre Grenzen stießen. Vor allem in den Städten waren die Gemeinden durch den Zuzug der Flüchtlinge schier unglaublich gewachsen. Das erforderte neue Kirchen und Gottesdienststätten – wie war das mit den vorhandenen Kräften und Konzepten zu schaffen?!  Das Programm der Haushalterschaft bot hier eine mögliche Antwort. 

Als Curt Georgi dieses Konzept kennenlernte, war er 39 Jahre alt. Er war in Leipzig als Sohn einer Fabrikantenfamilie aufgewachsen und brachte ein großbürgerliches Flair mit, auf das in seinen Visitationsbeurteilungen mehrfach eingegangen wird. Zu einem vertieften christlichen Glauben war er durch den CVJM gekommen, dessen erweckliche Frömmigkeit ihn bis an sein Lebensende begleitete. Curt Georgi muss begeisterungsfähig gewesen sein: 1931 trat er 18jährig in die NSDAP ein, wahrscheinlich ein Opfer der Hitlerschen Rhetorik. Im Rahmen seines Theologiestudiums, das er in Leipzig, Tübingen, Berlin und Riga absolvierte, wurde er bald von anderen Impulsen geprägt, ohne freilich aus der NSDAP auszutreten.  Das hindert heute die Stadt Stade daran, eine Straße nach ihm zu benennen, auch wenn seine lokalen Verdienste unbestritten sind.  In Leipzig gehörte er zu den Studenten des jüdischen Professors Joachim Wach, der zu den Begründern der Religionssoziologie zählt, allerdings bald emigrieren musste. Vor allem begegnete er aber der „Gruppenbewegung“ des Deutsch-Kanadiers Frank Buchman, aus der später sowohl der Marburger Kreis als auch die Moralische Aufrüstung hervorgingen. In dieser Frühzeit war das für Georgi zunächst ein Impuls, der sein persönliches Leben nachhaltig prägen sollte, bis hin zur Gestaltung des Tagesablaufs. Er selbst hat es später so beschrieben: Hier wehte die Luft des Urchristentums, hier gab es Menschen in Frieden mit Gott …Hier herrschte Offenheit, Freiheit, Unabhängigkeit, die ansteckende Lebendigkeit von Pionieren… Hier gab es … nichts Institutionalisiertes, was den kirchlichen Pluralismus verbreitert hätte, sondern eine Aktionsgemeinschaft in echter ökumenischer Gemeinschaft, neu und inspirierend. 3 Propagiert und praktiziert wurde hier u. a. die „Stille Zeit“, mit der man den Tag begann, über die man sich aber mit schriftlichen Notizen auch Rechenschaft ablegte. Dazu passte als zweite Säule die persönliche Beichte, die man selbst in Anspruch nahm und anderen anbot.  Beides ist für Georgi prägend geblieben.

Nach dem Examen meldete er sich dann nicht in der sächsischen Heimatkirche zum Vikariat, denn die stand stark unter dem Einfluss der „Deutschen Christen“. Unter den „intakten“ Landeskirchen fiel seine Wahl auf Hannover, was mit der Herkunft seiner Verlobten, Marie Luise von der Decken, zu tun gehabt mag. Sie stammte aus dem Land Kehdingen an der Niederelbe. Über das Vikariat in Hasbergen ist nichts weiter überliefert. In dieser Zeit arbeitete Curt Georgi weiter an seiner Dissertation über „Die Confessio Dosithei (Jerusalem 1672): Geschichte, Inhalt und Bedeutung“, mit der er 1940 an der philosophischen Fakultät der Universität Marburg promoviert wurde. Dorthin war sein Doktorvater Friedrich Heiler von den Nazis strafversetzt worden. So wurde Curt Georgi zum Dr. phil., aber die Beschäftigung mit einer Bekenntnisschrift der orthodoxen Kirche des 17. Jahrhunderts war von genuin theologischem Interesse geleitet. Die Theologische Literaturzeitung spricht von einer „wohl disponierten, klaren und gründlichen Arbeit“4

Vom Wehrdienst blieb Georgi vorerst verschont, denn er hatte von Geburt an einen Herzfehler und war bei der Musterung als beschränkt tauglich eingestuft worden. Aber in der Landeskirche wurde der junge Theologe dringend gebraucht: Viele Pastoren waren tauglich und insofern an der Front.  Am 21. März 1940 wurde Curt Georgi in Wettmar, Kirchenkreis Burgwedel, ordiniert und begann dort mit dem Probedienst, wie für Berufsanfänger üblich. Das Predigerseminar entfiel.

Curt Georgi muss sich mit Begeisterung in die Arbeit geworfen haben. Zwar ist aus dieser Zeit nichts Schriftliches von ihm überliefert, aber er wird wie auch später für ein deutliches Christusbekenntnis geworben haben. Manchen Wettmarern war das zu viel. Eigentlich war das Dorf kirchlich geprägt, aber er war nicht der erste Wettmarer Pastor, der Gegenwind bekam. In diesem Fall stand dahinter freilich die Macht des nationalsozialistischen Staats. Vor allem auf Grund seiner Jugendarbeit fand sich Curt Georgi bereits Ende Juni vier Tage lang im Gestapo-Gefängnis in Lüneburg wieder. Er hat das tapfer ertragen. Ein Brief aus dem Gefängnis an seinen Superintendenten endet mit dem Satz: Auch unter diesen Umständen erlebe ich die Wahrheit, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen, denn viele Worte der Bibel seien ihm neu und köstlich aufgegangen.“ Die Kirchenleitung setzte sich sofort massiv für ihren Pastor ein, was die Kürze der Haft erklären mag. Aber an ein segensreiches Wirken in Wettmar war nun kaum noch zu denken.

Der Vorfall hat weite Kreise gezogen, denn die Nazis hatten ihn öffentlich gemacht. In der Gaupresse der NSDAP erschien ein Hetzartikel gegen Georgi, der zwar keinen Namen nannte, bei dem aber jeder wusste, wer gemeint war. Unter der Überschrift „Da schlag doch einer lang hin“ wurden Vorwürfe erhoben, die sich zwar als haltlos erwiesen, aber die nun in der Welt waren. Der zuständige Superintendent Spanuth in Burgwedel muss ein ebenso energischer wie gründlicher Mann gewesen sein. Ich zitiere aus seiner Zusammenfassung dieser Vorfälle, die er im Jahre 1945 geschrieben hat.: Seine (Georgis) Arbeit wurde 1940 plötzlich gestört durch einen gemeinen Angriff aus Parteikreisen. Es erschien in der Kreiszeitung ein Artikel mit verleumderischen Andeutungen über seine Tätigkeit im Mädchenbibelkreise. Angehörige der Gestapo nahmen im Orte Verhöre vor, und Pastor Georgi wurde verhaftet und eingesperrt. Der gleiche Artikel stand in allen Kreisblättern Nordhannovers und im Niedersachsenstürmer. Von allen Seiten kamen entrüstete Briefe über den Artikel, der als ein Angriff nicht bloß auf den Einzelpastor, sondern auch auf die Amtsehre des hannoverschen Pfarrerstandes aufgefaßt wurde.  …. Als Pastor Georgi aus dem Gefängnis zurückkam, habe ich ihn und die beteiligten Mädchenkreise dienstlich vernommen. Ich habe mündlich und schriftlich beim `Burgdorfer Kreisblatt` schärfsten Protest wegen der verleumderischen Unwahrheit des Artikels erhoben. … Ich habe am Sonntag nach Pastor Georgis Rückkehr in Wettmar Gottesdienst gehalten und in einer längeren Kanzelabkündigung öffentlich gewarnt, die Verleumdung der Zeitung sich zu eigen zu machen, widrigenfalls ich beim Gericht … Strafanzeige stellen würde.  … Noch heute wundere ich mich, daß die Gauleitung oder die Gestapo mein scharfes Auftreten sich hat gefallen lassen. Man wird bald zu der Überzeugung gekommen sein, daß der Angriff auf den Pastor keinerlei innere Begründung hatte.6  Im Zusammenhang mit diesen Vorfällen wurde Pastor Georgi aus der NSDAP ausgeschlossen, glaubte aber, sich auch auf dieser Ebene verteidigen zu müssen. So kam es dazu, dass ein Parteigericht den Ausschluss wieder rückgängig machte. Lediglich eine Rüge wegen Interesselosigkeit wurde aufrecht erhalten.7)

Georgis Zeit in Wettmar war damit aber so gut wie zu Ende. An ein gedeihliches Wirken war hier nicht mehr zu denken. Die hannoversche Landeskirche versetzte ihn nach Osterode im Harz. Im August 1941 wurde er trotz seines Herzfehlers zum Wehrdienst eingezogen, auch wenn er nicht an vorderster Front dienen musste. Nach kurzer Kriegsgefangenschaft fand er sich dann im Juli 1945 als Zivilist wieder. Aus dienstrechtlichen Gründen war seine kirchliche Laufbahn inzwischen weitergegangen. 1944 hatte er seine Probedienstzeit hinter sich und wurde zum Pfarrer der Landeskirche ernannt, doch hatte man seitens der Kirchenleitung wohl Befürchtungen, er könne ähnlich wie in Wettmar noch einmal anecken. Dafür spricht seine vom Landesbischof unterzeichnete Bestallungsurkunde. Danach geschieht die Bestallung in dem Vertrauen, dass Pastor Dr. Georgi in aufrichtiger Zusammenarbeit mit dem nationalsozialistischen Staat der Obrigkeit untertan sein wird – eine zumindest ungewöhnliche Formulierung.8 Nach dem Krieg hat Georgi in Osterode noch für ein paar Monate Dienst getan.  Seit Anfang 1946 war er dann Pfarrer der drei Dörfer Hary, Störy und Bönnien im heute nicht mehr existierenden Kirchenkreis Bockenem.

Über die Wirksamkeit dort gibt es zwei Äußerungen seines Superintendenten. Im Visitationsbericht vom Dezember 1947 heißt es: Pastor Dr. Curt Georgi hat eine gute Begabung. …Er hat den Willen und die Freude, sich theologisch weiterzubilden … Er ist ein ausgesprochener Mann der Gruppenbewegung, von der er für sein persönliches Glaubensleben und seine theologische Blickrichtung Entscheidendes erfahren hat. Es ist zu verstehen, wenn er diese Gabe als Aufgabe für die Gemeinde ansieht. … Dabei gewinnt er in erster Linie Kreise aus der fluktuierenden Flüchtlingsbevölkerung, während die mehr konservativen Teile der ursprünglichen Gemeinde demgegenüber abwartend und zurückhaltend sind. 10– Aus späterer Stader Sicht lässt sich hier schon sagen: Es hat dann gut gepasst, dass Pastor Georgi in der Johannisgemeinde ganz überwiegend Flüchtlinge vorfand.

Schon zu diesem Zeitpunkt wie dann in der Beurteilung vor dem Wechsel nach Stade wird Pastor Georgi als lebendiger Prediger und aktives Mitglied der Pfarrkonferenz gelobt. 1951 heißt es: Es ist Georgi ein sehr ernstes Anliegen, den Herrn Christus und Seine Botschaft vor den Menschen der Gegenwart zu stellen. Diesen Dienst übt er aus mit echtem Eifer. Er hat auf diese Weise besonderen Zugang zur Jugend. Dagegen konnte er wenig anfangen mit der älteren Generation, besonders unter den Männern im Dorf. 11 Letzteres wird freilich auch damals für einen Pastor in den ersten Amtsjahren so ungewöhnlich nicht gewesen sein.

Eine weitere Beurteilung stammt vom Hildesheimer Landessuperintenten, der aus Anlass des Wechsels nach Stade an seinen Kollegen Hoyer schrieb: Ein Mann mit seinen Gaben gehört eigentlich mehr in die Stadt. Er ist über den Durchschnitt gut begabt. …. Im übrigen ist noch zu sagen, dass er „der Gruppe“ nahe steht. Dazu aber möchte ich betonen, dass ihn vor Verstiegenheiten seine gute theologische Bildung schützt.12 Georgis Prägung durch die Gruppenbewegung war also weiterhin wahrnehmbar, auch wenn Einzelheiten nicht überliefert sind. Aus dieser Bewegung ging später der „Marburger Kreis“ hervor, dessen Geschichte Georgi dann beschrieben hat. Er schildert die deutschen Neuanfänge nach dem Krieg sehr kenntnisreich und detailliert.  Es bleibt aber ungeklärt, wie weit er an den Tagungen und Diskussionen selbst beteiligt war. Bei den schwierigen Reiseverhältnissen nach dem Krieg wird das jedenfalls nicht immer möglich gewesen sein. 

Neben diesem frömmigkeitsorientierten Impuls ging von Frank Buchman eine zweite Bewegung aus: Die „Moralische Aufrüstung“, die zu den vier Absolutheiten Reinheit, Wahrhaftigkeit, Selbstlosigkeit und Liebe aufrief. Auch diese Bewegung war in den dreißiger Jahren entstanden, doch hatte sie vor allem in der Frühzeit des Kalten Krieges Konjunktur. Curt Georgi hat auch diesen Ansatz eine zeitlang vertreten, wie seine wöchentlichen Beiträge für die Zeitung ausweisen. Er nahm dann aber zunehmend den moralistischen bzw gesetzlichen Unterton wahr. Hier schlug die „gute theologische Bildung“ durch, von der sein Landessuperintendent geschrieben hatte. Aber man kann eine Parallele zum Eintritt des jungen Georgi in die NSDAP sehen: Auch wenn die „Moralischen Aufrüstung“ mit dem Nationalsozialismus nicht auf eine Stufe gestellt werden kann: Wenigstens für eine Weile hatten schöne Worte auf Curt Georgi ihre Wirkung ausgeübt. 

Als Mann der Gruppenbewegung war er in Stade also angekündigt. Im September 1951 fing er als Pastor an St. Wilhadi an – eine der beiden alten und bis dato einzigen Gemeinden in Stade.. Die zweite Pfarrstelle an St. Wilhadi war gerade neu errichtet bzw. umgewidmet worden. Es war vorher die Pfarrstelle des Landessuperintendenten gewesen, der freilich nur einen winzigen Bezirk betreut hatte.. St. Wilhadi hatte damals durch den Flüchtlingsstrom knapp 18 000 Mitglieder. Da war es kein Wunder, dass der Kirchenvorstand gegenüber der Landeskirche einen Geistlichen gefordert hatte, der mit seiner ganzen Kraft der Gemeinde zur Verfügung steht.13

Mit der Besetzung durch Georgi war dieses Ziel erreicht. Er ging sogleich energisch an die Arbeit. Mit dem neuen Kirchenjahr begannen am 1. Advent regelmäßige Sonntagsgottesdienste in der Kapelle auf dem Horstfriedhof, der in Georgis Pfarrbezirk lag. Sie wurden zwar von den Wilhadi-Pastoren reihum gehalten, aber die Gemeinde, die sich hier zusammenfand, sah Georgi als „ihren“ Pastor und bildete später einen Grundstock für die Johannisgemeinde. Sicher nicht zufällig kamen gleich drei spätere Johannis-Kirchenvorsteher aus naher Entfernung zur Horstkapelle.  In der damals stark vom öffentlichen Dienst geprägten Stadt Stade fand Georgi eine Klientel, für die er den richtigen Ton traf. Es war sicher eine realistische Selbsteinschätzung gewesen, als er zuvor einen Ruf der Landeskirche nach Hamburg-Harburg abgelehnt hatte: Für eine Arbeitergemeinde sei er nicht so gut geeignet.

Eine zweite Aktivität waren die regelmäßigen Sonntagsbetrachtungen im Stader Tageblatt. Bei Georgi bekam diese Rubrik einen neuen Titel: „Was meinst du dazu?“ Unter dieser Firmierung hat er das Stader Tageblatt bis zu seinem Tod Woche für Woche beliefert. An den Anfang stellte er oft die kurze Skizze einer Alltagsbegebenheit, in der sich seine Leser wiederfinden konnten. Manchmal war es auch eine Schlagzeile aus der Zeitung, die als Anknüpfungspunkt diente. An dieser Stelle zeigt sich eine besondere Begabung: Er schafft es, mit wenigen Zeilen, anschlussfähig für viele zu sein. Dabei sind diese Texte nicht unbedingt einfach geschrieben: Es kommt sogar vor, dass ein einzelner Satz einen ganzen Absatz umfasst. Und mehrere Nebensätze oder Parenthesen finden sich häufig. Den Akademiker und Bildungsbürger kann Curt Georgi nicht wirklich verleugnen.

Andererseits hat jede dieser Betrachtungen einen deutlichen Zielpunkt und ein klar durchgehaltenes Thema. Vor allem in der Anfangszeit wird ein Thema auch mal über mehrere Wochen bearbeitet, doch stets in säuberlichen Einzelportionen. Immer wieder finden sich hellsichtige, z. T. sehr pointierte Bemerkungen zu gesellschaftlichen Entwicklungen. Akkord ist Mord heißt es am 18. Mai 1968, was aber weniger gesellschaftskritisch gemeint ist. Denn es geht dann weiter: Im Betrieb ist jeder auswechselbar, aber als Ehemann und Vater sind wir es nicht. Wir gehören den Unseren mehr als dem Betrieb. 14 Und schon am 17. 10. 1953 hatte er geschrieben: In der Wirtschaft hat das Teufelswort des Liberalismus Gültigkeit gewonnen: `Jeder sorgt am besten für die Allgemeinheit, wenn er für sich selber sorgt.` Curt Georgi setzt dagegen; Nicht die äußeren Gegebenheiten bestimmen unser Leben, sondern die Haltung des Herzens. Dafür gelten die klaren Gesundheitsregeln Gottes für unsere Seele.15

Nicht zuletzt werben die Texte immer wieder für ein sehr entschiedenes Christentum. Unterschwellig klingt oft durch, dass sich der Autor andere Lebensformen eigentlich nur als defizitär vorstellen kann. In der geistigen Situation der 50er Jahre wird das kaum aufgefallen sein: Im historischen Vergleich sind die Kirchen kaum je so voll gewesen wie kurz nach dem Krieg. Da konnte man gut schreiben: Gott will uns frei von falschen Bindungen froh und glücklich machen. Er weiß, daß wir das nur werden, wenn wir unser Herz in vollem Vertrauen ihm öffnen.16 Auch ein Jahr später begegnet das Wörtchen „nur“ in einem Artikel über die Ehe als lebenslange christliche Gemeinschaft. Diese kann nur aufgebaut werden auf dem Felsengrund der Treue. Christus allein ist der Garant dieser Treue.17 Das muss zu diesem Zeitpunkt einen anderen Klang gehabt haben als der gleiche Tenor im Jahre 1967: Die einzige Möglichkeit, in der außen-geleiteten Gesellschaft autonom, frei zu werden, liegt in der Leitung durch den Heiligen Geist Gottes.18 Dass Angehörige anderer Religionen ihren eigenen Lebensentwurf haben, hat 1967 in den deutschen Kirchen noch niemand gesehen. Aber es wurde allmählich hinterfragbar, eine christliche Einstellung wie selbstverständlich vorauszusetzen. Auch Curt Georgi wusste das eigentlich, aber es fällt ihm schwer, dieses Stück Realität anzuerkennen.

Wie in vielen Städten war es auch in Stade deutlich, dass für die neuen Stadtviertel neue Kirchen gebraucht wurden. Die St.-Wilhadi-Gemeinde bot zwar regelmäßige Gottesdienste in der Flüchtlingssiedlung auf dem Gelände eines ehemaligen Militärflugplatzes an, aber das war ganz deutlich nur ein Notbehelf – geografisch sehr am Rande der Gemeinde. Eine neue Kirche im Bereich der Neubausiedlungen machte da wesentlich mehr Sinn. Wie zielgerichtet und energisch dieses Projekt nun vorangetrieben wurde, zeigt der Vergleich zur Markuskirche, der zweiten neuen Stader Gemeinde. Die Johanniskirche wurde 1956 eingeweiht, neun Jahre vor Markus. Pastor Georgi hat dabei eine wesentliche Rolle gespielt. Bei den Verhandlungen mit der Landeskirche wird  seine Verbindung mit Landessuperintendent Hoyer hilfreich gewesen sein. Die beiden Männer hatten ein gutes Verhältnis, und durch den Sitz der Landessuperintendentur in Georgis Bezirk hatte Hoyer das neue Projekt quasi ständig vor Augen.

Das künftige Kirchengelände war hervorragend gelegen. Das Stader Tageblatt geriet am Heiligen Abend 1953 förmlich ins Schwärmen: Der Platz, der den weiten Ausblick nach Südosten freigibt, ist einer der schönsten Aussichtspunkte Stades, wo der Blick bis zum Rüstjer Forst und bis in die Marsch schweift. Er wird als öffentliche Grünanlage ausgestaltet und mit Ruhebänken versehen werden. Das Auge wird sich über die Bewegung im Steigen und Fallen der Dächer freuen. Alles bekrönt der Turm, der mit seiner Bläsergalerie noch über den höchsten Wipfel von Sanders Anlagen hinausragt und auch westlich über den Kopenkamp hinweg zum Schwarzen Berg grüßt.19 Für die Wahl dieses Ortes sprachen aber auch praktische Gesichtspunkte. Die Kirche war von allen damals bebauten Teilen der Gemeinde – abgesehen vom Außendorf Hagen - auf kurzen Wegen zu erreichen, und nicht zuletzt liegt direkt gegenüber das Gelände der heutigen Grundschule, nicht weit dahinter die Hauptschule. Mit deren Gründungsrektor Seidensticker konnte Georgi gut zusammenarbeiten, und auch in späteren Jahren ist diese Verbindung gepflegt worden. Für den Johanniskindergarten, der kurz nach der Kirche gebaut wurde, fand sich in diesem Bereich auch noch ein Platz.

1952 konnte das Gelände erworben werden. Ein Jahr später wurde ein Kirchbauverein gegründet – mit Pastor Georgi als Geschäftsführer. Die breite Öffentlichkeit erfuhr von dem Vorhaben im November 1952 in einem Artikel des Stader Tageblatts, der gleichzeitig die katholischen Pläne zum Bau der Heilig-Geist-Kirche ankündigte. Die Überschrift lautete denn auch: Neues Kirchen-Zentrum: In Stade an der Brauerstraße geplant.Dabei gab es noch nicht sehr viel zu berichten: Es muss ausdrücklich betont werden: Sowohl der katholische wie der evangelische Neubauplan stehen erst im Anfangsstadium. Es liegen noch keinerlei Entwürfe vor. Lediglich eine Grundvoraussetzung ist in beiden Fällen in jüngster Zeit geschaffen worden. Die beiden entsprechenden Baugrundstücke sind vertraglich in den Besitz der katholischen bzw. evangelischen Kirchengemeinde übergegangen. 20

Für den Kirchenbauverein hatte Georgi klangvolle Namen an Bord geholt. Im Vorstand saßen Salinendirektor a. D. Marquardt sowie der Leiter des Athenäums, Oberstudiendirektor Dr. Wohltmann. Eine besondere Rolle sollte auch dem Schatzmeister Waldemar Gätjens zukommen, der mit seinen Kontakten als Steuerberater wesentlich zur Beschaffung der Geldmittel beitrug.

Aber es ging um mehr als Steine und Mörtel bzw. Geld. Die künftige Johanniskirche brauchte auch einen Mitarbeiterkreis – und hier kommen die Grundsätze der Haushalterschaftsarbeit ins Spiel.  Für das Denken und Wirken von Curt Georgi handelt es sich hier um den letzten und vielleicht wirksamsten Impuls, den er aufnahm.  Bisher hatten sich die Impulse aus der Gruppenbewegung in seiner Frömmigkeit und seiner persönlichen Lebensgestaltung ausgewirkt. Jetzt stieß er auf ein Programm der Gemeindearbeit, das wie auf ihn zugeschnitten war.

Die äußeren Verhältnisse verlangten nach neuen Ansätzen in der kirchlichen Arbeit. Die Jahre nach dem Krieg sahen in Deutschland einen Gottesdienstbesuch, wie es ihn auch in den angeblich guten alten Zeiten nicht gegeben hatte. Das galt in Stade ebenfalls: So gab es am Ewigkeitssonntag 1952 in der Horstkapelle vier Gottesdienste mit zusammen über 500 Teilnehmern. Bei solcher Nachfrage kamen die gewachsenen Strukturen an ihre Grenzen. Nicht nur in Stade waren die Gemeinden durch die Flüchtlinge sehr viel größer geworden. Erst recht wuchsen die Konfirmandenzahlen. Bei Kriegsbeginn hatte es eine beträchtliche Anzahl schneller Eheschließungen und einen Anstieg der Geburtenrate gegeben. 1952 gab es in Stade 541 Konfirmanden, von denen Pastor Georgi 68 Knaben und 71 Mädchen unterrichtete. Das war die größte Gruppe in Stade, aber Georgi hatte auch den größten Pfarrbezirk. Wie würde das auf Dauer zu bewältigen sein?

Wie oben erwähnt kam das Haushalterschaftsdenken vor allem durch die Vollversammlung des Lutherischen Weltbunds 1952 nach Deutschland. Die veröffentlichen Berichte lesen sich wie eine Blaupause für die Aufbauarbeit, die Pastor Georgi in Stade geleistet hat. Die Papiere aus Hannover bestehen auf einer Verbindung von Lehre und Praxis. Stewardship (Haushalterschaft) soll deshalb tätigen Einsatz als Ergebnis des Glaubens hervorbringen. Dieser tätige Einsatz soll seinen Mittelpunkt in der Gemeinde haben. Sie soll in den Gemeinden den Aufbau von Kerngemeinden, in den Häusern Unterweisung durch Väter und Mütter und in der Kirche das Zeugnis der Laien (Männer und Frauen) anderen Nicht-Gläubigen gegenüber, sowie die Sammlung von Geldspenden für das Werk des Herrn umfassen. Darüber hinaus muss sie Pastoren und Laien als Partner in der Arbeit umschließen.  ……. Stewardship ruft nach Taten, nicht um der Aktivität an sich willen, sondern um dem Dank an Gott für seinen Segen Ausdruck zu verleihen, den er dem Menschen geschenkt hat. … Stewardship macht Mut zum Gebrauch allgemeiner alltäglicher Talente, die alle geistliche Bedeutung haben können.21

Hier wird die Bedeutung der Ehrenamtlichen in einer Weise herausgestellt, die damals ungewöhnlich gewesen sein muss. Von der Leitung des Pastors22 ist allerdings ebenfalls die Rede. Dieses Gedankengut wird für Curt Georgi nicht völlig neu gewesen sein. Aber er wird gefunden haben, dass es für ihn passte, wenn da etwa über die Aufgaben des Pastors zu lesen ist: 1. Er betet für seine Leute und für „andere Schafe“, 2. er studiert die Bibel und Theologie, 3. er predigt Gottes Wort und verwaltet die Sakramente, 4. er pflegt mit der Fürsorge eines Hirten die Schafe seiner Herde, 5. er ist fortlaufend damit befaßt, die zu suchen, die außerhalb der Herde sind.23  Curt Georgi  setzte das Programm  der Haushalterschaft nicht nur in seinem persönlichen Leben um. In der Gemeinde wurde besonders der Besuchsdienst wichtig, den der Text aus Hannover ausführlich empfiehlt und beschreibt. 24 Aber es gab auch andere Möglichkeiten zum „tätigen Einsatz“.

Wie sehr sich Georgi dieses Denken zu eigen gemacht hatte, zeigen bald schon seine Beiträge für die Zeitung: „Die neutestamentliche Botschaft von der Haushalterschaft besagt, daß Gott, unser Schöpfer und Erlöser, der alleinige Herr und Eigentümer unserer selbst und aller Dinge sein will. Er hat uns lediglich die verschiedenen Lebensgüter – unsere eigene Persönlichkeit, unseren materiellen und geistigen Besitz –zu getreuen Händen überlassen und wird einst Rechenschaft von unserem Haushalt fordern.“ So schreibt er zum Reformationstag 1953, und dieses eine Beispiel möge hier genügen. 25 Dies war ein klares und schlüssiges Konzept, das damals besonders gut in die Zeit gepasst haben muss. In der Johannisgemeinde half es, viele Menschen zur Mitarbeit zu motivieren.

Zielpunkt und Zentrum der Arbeit rund um Johannis war der Gottesdienst. Zu ihm lud der Besuchsdienst ein, dessen Mitglieder sich jeweils am Samstagnachmittag auf den Weg machten – nach biblischer Weisung jeweils zu zweit, und nach einer gemeinsamen Andacht. Am Mittwochabend hatte bereits der „Biblische Aussprachekreis“ den Predigttext des kommenden Sonntags besprochen. Der Altarfrauenkreis sorgte für die Blumen und das jeweils korrekte Parament, bereitete aber auch das Abendmahl vor. Nicht zuletzt hieß der Begrüßungsdienst jeden Gottesdienstbesucher herzlich willkommen und drückte ihm das Gesangbuch in die Hand. Ab 1962 kam ein Lektorenkreis für die gottesdienstlichen Lesungen hinzu. Bei den männlichen Konfirmanden nahm man Rücksicht auf den Stimmbruch. Aber die Mädchen waren jeden zweiten Sonntag als liturgischer Chor im Einsatz.

Zu den gottesdienstlichen Gebräuchen muss noch eine Besonderheit festgehalten werden: Einmal im Monat wurde Abendmahl gefeiert. Das ist in evangelischen Breiten nicht ungewöhnlich. In Johannis gab und gibt es ein Extra: Ein liturgischer Beichtgottesdienst, der dem „Hauptgottesdienst“ vorgeschaltet ist – damals 30 Minuten eher. Hier dürften Curt Georgis theologische Prioritäten und die Prägung vieler Flüchtlinge in der Gemeinde glücklich zusammen gekommen sein. Ein Abendmahl mit gründlicher Vorbereitung war etwa in Ostpreußen nicht ungewöhnlich -  oft ohne Frühstück, damit die „heilige Mahlzeit“ die erste am Tag war. Und für einen Mann des Marburger Kreises war die Beichte ebenfalls wichtig, nicht nur in liturgischer Form. In einem Lebensbild, das er über seinen älteren Freund, den Volksmissionar Hans Bruns geschrieben hat, klingt das bei Curt Georgi so: Im Zentrum der Seelsorge liegt die Beichte. Im evangelischen Bereich hat sie die Gruppenbewegung wieder neu ins Leben gerufen. Eine echte Lebensbeichte trägt als Durchbruch zur Vergebung Gottes …. deutlich die Merkmale einer Neugeburt. 26  In seiner Stader Seelsorgepraxis wusste Georgi vermutlich, dass er die Menschen nicht überfordern durfte. Aber die Beichte war ihm auf jeden Fall wichtig. 

Für gut besuchte Gottesdienst sorgte auch Georgis Fähigkeit als Prediger. Nach der Beurteilung bei seiner letzten Stader Visitation im Jahre 1964 galt er als ausgezeichneter Kanzelredner. Er bevorzugt Veranschaulichungen in der Verkündigung, die er aus der modernen Welt und ihrer geistig-seelischen Struktur nimmt. 27 So war es kein Wunder, dass die Kirche in der Regel gut gefüllt war. Gleiches galt für die monatlich angebotene Wochentagsveranstaltung „50 Minuten Stille für rastlose Menschen“, wobei diese Zeit durchaus nicht still war, sondern den Besucher neben guter Musik mit oft anspruchsvollen Texten konfrontierte. Für das Jahr 1958 verzeichnet das Sakristeibuch einen Durchschnittsbesuch von 344 Personen.

Sicherlich kam es der Gemeinde auch zugute, dass sie etwa gleichzeitig mit vielen Häusern und Wohnungen in der Umgebung entstand, besonders im Pommernviertel. Wer hier einzog, fand die Kirche bereits vor, und wer sein Kind zur Grundschule brachte, war dadurch auch an den Weg Richtung Kirche gewöhnt. 

Bevor die Johanniskirche am 4. Advent 1956 eingeweiht werden konnte, war freilich eine Menge Arbeit nötig gewesen. Als erstes Gebäude auf dem Kirchenhügel war 1954 ein Pfarr- und Gemeindehaus entstanden. Nun konnten die Vorbereitungen noch besser vorangetrieben werden als von der Wilhadikirche aus. Das  Gemeindehaus war freilich eher ein Nebenprodukt, das in der Zwischenzeit nicht zufällig mehrfach umgebaut und erweitert werden musste. Die Toilette war vom Gemeindesaal nur über eine steile Kellertreppe zu erreichen. Eine Küche fehlte völlig. Ganz anders die Kirche, die sehr sorgfältig geplant und gestaltet wurde. Das begann mit der Platzierung der Orgel links vorn neben dem Altar, so dass im Gottesdienst eine rasche Kommunikation zwischen dem Liturgen und dem Organisten und/oder Chorleiter möglich ist. Die Sakristei ist auch von außen zugänglich und hat eine angemessene Größe. Unter der hinten gelegenen Empore gibt es einen abtrennbaren Raum, der in der Woche z. B. für die Konfirmandenarbeit oder für Chorproben genutzt werden kann. Aber bei besonderen Gottesdiensten gibt es hier zusätzliche Plätze. 

Von gediegener Sorgfalt zeugt die künstlerische Gestaltung, zu der der Stader Künstler Synold Klein maßgeblich beigetragen hat. Von ihm stammt auch das Gemeindesiegel mit dem Johannesadler. Nachdem man sich auf den Namen Johanniskirche geeinigt hatte – in der Form des Namens eine bewusste Anspielung auf das ehemalige Johanniskloster im Stadtzentrum – kamen auch sonst Motive aus der Johannes-Tradition zum Tragen. Über der Eingangstür steht das Jesuswort Ich bin die Tür. Wer durch mich eingeht, wird selig werden. (Joh 10, 9) Das Lesepult hat nicht nur die Form eines stilisierten Johannesadlers, sondern zeigt auch die berühmten Worte vom Anfang des vierten Evangeliums: Im Anfang war das Wort …

Die Ostseite der Kirche wird von einem großen Glasmosaik beherrscht, das von dem Esslinger Künstler Hans-Georg von Stockhausen stammt. Das Motiv stammt aus dem ersten Kapitel der Offenbarung. Der himmlische Christus mit dem goldenen Gürtel, dem Schwert aus seinem Mund und den sieben Sternen in der Hand ist der dort beschriebenen Vision des Sehers Johannes nachempfunden. Ein Detail ist dabei besonders bemerkenswert. Anders als in den meisten Darstellungen sitzt dieser Christus nicht auf seinem Thron, sondern ist in Bewegung und macht einen Schritt auf den Betrachter zu. Wie es zu dieser Darstellung kam, lässt sich im Einzelnen nicht mehr nachvollziehen. Ein erster Plan hatte anders ausgesehen. Pastor Georgi hatte zunächst gedacht, eine größere Fülle von Gestalten wurde … den monumentalen Charakter, den das Fenster an dieser Stelle haben soll, hervorheben. 28 Das wäre aber schlecht  mit der verwendeten Technik zu vereinbaren gewesen, bei der die Glasbausteine von nicht eben filigranen Betonelementen gehalten werden.  Man wird vermuten können, dass es zwischen dem Künstler, Pastor Georgi  und den übrigen Mitgliedern des Kirchenbauvereins intensive Diskussionen gegeben hat.  Was dann entstand, war aber völlig in Georgis Sinn. 

Eine Besonderheit stellt das schwere bronzene Kollektenbecken dar. Rund um den Rand läuft die Inschrift Opfere Gott Dank und erfülle dem Höchsten deine Gelübde. (Ps 50, 14)  In der Johanniskirche wird die Kollekte von den Sammlern nicht einfach auf den Altar gelegt. Stattdessen nimmt der Liturg das Becken in beide Hände und tritt damit vor den Altar, worauf der Inhalt der Sammelkörbe in das Becken entleert wird. Diese Form des Umgangs mit der Kollekte ist sonst eher im englischsprachigen Raum zu finden und dürfte den Weg nach Johannis über das Gedankengut der Haushalterschaft gefunden haben. Haushalterschaft versteht sich als Verwalterschaft über alles, was wir besitzen, und dazu gehört sicherlich unser Geld. Aber es„fängt mit der Verkündigung des Evangeliums an und versucht, in den Christen eine vollere Erfassung der großen Liebe Gottes für die Menschen zu wecken. … Das Geben ist deshalb nicht ein auferlegter Akt, sondern ein freier und freiwilliger Ausdruck der Dankbarkeit. 29 Das feierliche Darbringen der Gaben mit anschließendem Gebet passt dazu gut. 

In den letzten Wochen des Jahres 1956 muss auf der Baustelle am Sandersweg mit Hochdruck gearbeitet worden sein. Schließlich wollte man das Weihnachtsfest in der neuen Kirche feiern. Am 4. Advent war es dann so weit. In einem Festgottesdienst mit Landesbischof Lilje wurde die Johanniskirche eingeweiht. Gerade noch rechtzeitig waren die Glocken gegossen worden. Allerdings fehlte noch die Orgel, und das Thema „ Heizung und Lüftung“ beschäftigte den Kirchenvorstand noch bis in die 60er Jahre. Aber die Kirche war jetzt im Gebrauch, wenn auch zunächst noch als Teil der Wilhadigemeinde. Zwei Jahre später wurde die Johannisgemeinde dann selbständig.

Ab 1957 gab es eine zweite Pfarrstelle. Die Gemeinde wünschte sich aber auch einen hauptamtlichen Kirchenmusiker und stellte deshalb im Dezember 1958 einen Antrag an das Landeskirchenamt, aus dem eine gehörige Portion Selbstbewusstsein spricht: Die am 1. 10. 1958 verselbständigte Johannisgemeinde ist eine Aufbaugemeinde, in der die strukturellen Verhältnisse der Neusiedlung mit den kirchlichen positiv übereinstimmen. Es ist weder konservatives Kirchentum noch mangelnde Kirchlichkeit, sondern ein aufwachendes Gemeindeleben festzustellen. Für dieses Leben hat sich die Haushalterschaftsarbeit in verschiedenen Kreisen (Besuchsdienst, Begrüßungs-dienst, Altardienstkreis, Kinderhort der Mädelkreise während der Gottesdienste) ebenso bewährt wie der als gelungen zu bezeichnende volksmissionarische Vorstoß in den monatlichen Werktagsgottesdienstens „50 Minuten Stille für rastlose Menschen“. In dieser Hinsicht stellt die Gemeinde gewissermaßen einen Modellfall dar.“ 30 Vielleicht waren es solche Töne, die Superintendent Glawatz in seiner Visitationsbeurteilung von 1964 etwas bissig von der Ausnutzung jeder Gelegenheit, das Licht nicht unter den Scheffel zu stellen 31 sprechen ließ. Er hat aber auch viel Positives zu sagen. Auch das Landeskirchenamt konnte sich einer so engagierten Gemeinde nicht verschließen: Eine B-Musiker-Stelle wurde bewilligt.

Die Aufbauarbeit auf dem Kirchenhügel war damit aber noch nicht beendet. Der evangelische Kindergarten im Bereich Stade-Süd (heute Ottenbeck) stand vor der Schließung, weil die Bundeswehr nach Stade kam und das Gelände des ehemaligen Fliegerhorsts für sich reklamierte. Es spricht für die Tatkraft von Curt Georgi, dass der Ersatzbau bei der Johanniskirche entstand. Unterhalb des Gemeindehauses war auf dem Kirchengelände gerade noch Platz. Als erstes musste natürlich die Finanzierung für Baukosten von am Ende 205 000 DM stehen. Die größte Einzelsumme kam von der Bundeswehr (45 000 DM), die dafür einen Anspruch auf Plätze für die Kinder von Armeeangehörigen bekam. Aber Pastor Georgi holte auch den Hausfrauenverein mit ins Boot, für den 1000 DM eine beachtliche Summe gewesen sein dürften. 

Die Verhandlungen mit anderen Geldgebern zogen sich in die Länge, aber Georgi war ungeduldig. Bei der Landeskirche war der Landesverband für Kinderpflege zuständig. Von dort kam eine ernsthafte Warnung, noch im laufenden Jahr mit dem Bau zu beginnen. Eine Reihe zugesagter Zuschüsse stünde erst im Folgejahr zur Verfügung. Die Grundsteinlegung erfolgte dann aber doch schon im September 1960. Irgendwie war es gelungen, von allen Beteiligten die Zustimmung zum vorzeitigen Baubeginn zu erhalten.  Bei der Eröffnung titelte das Stader Tageblatt Ideale Kinderstube der Kirche, und Pastor Georgi sah ein „diakonisches und missionarisches Werk“.32

Nach den Kindern waren dann die Alten an der Reihe. 1967 konnte das Johannisheim bezogen werden. In seiner zupackenden Art hatte Georgi zugegriffen, als nahe der Kirche ein größeres Grundstück zum Verkauf stand. Hier sollte zunächst ein Haus für den Organisten gebaut werden, und auch die Diakonie des Kirchenkreises sollte einen Platz bekommen. Aber diese Pläne müssen sich zerschlagen haben. Stattdessen kamen die Senioren in den Blick. In diesem Fall wurde mit der Gründung eines selbständigen Kuratoriums eine andere Rechtsform als beim Kindergarten gewählt, denn es wurden bewusst auch Vertreter der übrigen Stader Kirchenvorstände mit an Bord geholt. Am Anfang war es quasi selbstverständlich, dass die Mitglieder des Johannis-Kirchenvorstands auch im Kuratorium waren. Aber schon bald zeigte sich, wie gut es war, den Kreis zu erweitern. Das Heim brauchte seine eigene Aufmerksamkeit. Diese Aufgabe hätte die Kirchenvorstandssitzungen überfrachtet. Auf jeden Fall war es ein beeindruckender Weg: Bei der Gründung des Kuratoriums in Georgis Amtszimmer ließ der frisch gewählte Schatzmeister seinen Hut herumgehen und bekam knapp 60 DM zusammen. Als das Johannisheim fünf Jahre später eingeweiht wurde, hatte es knapp zwei Millionen DM gekostet. 

Der Bau des Johannisheims war Georgis letztes großes Projekt in Stade. Es wurde Ende Mai 1967 eingeweiht. Bereits am 1. Juni begann er seine Tätigkeit als Pastor an der Versöhnungskirche in Hamburg-Eilbek, wo man sich nach einem Pastor mit seinem Frömmigkeitsprofil umgeschaut hatte. Um unter solchen Voraussetzungen wirken zu können, nahm Curt Georgi auch einen Wechsel der Landeskirche in Kauf. Er konnte in Eilbek freilich nur noch vier Jahre lang arbeiten, zuletzt bereits mit Einschränkungen. Der angeborene Herzfehler machte sich stärker bemerkbar und führte auch zu seinem Ausscheiden  aus dem Marburger Kreis. Immerhin konnte er der neuen Gemeinde noch zu einem zeitgemäßen Gemeindebrief verhelfen. 1971 ging Curt Georgi dann in den vorzeitigen Ruhestand und wohnte mit seiner Ehefrau wieder in der Stader Johannisgemeinde.

Bis zum Sommer 1977 hat er das Stader Tageblatt und die angeschlossenen Zeitungen mit der samstäglichen Kolumne „Was meinst du dazu?“ beliefert. Dabei blieb er nach wie vor nahe am Zeitgeschehen. Zum Reformationstag 1970 reagiert er auf das II Vatikanische Konzil: Gott hat sich Luthers bedient, der sein gefügiges Werkzeug sein wollte, und er mag sich heute … im 20. Jahrhundert eines Papstes wie Johannes XXIII bedienen.33 Zum damaligen Zeitpunkt eine bemerkenswerte Aussage! Seiner Grundausrichtung bleibt Curt Georgi weiter treu. „Es ist die Wirkung abendländischer Tünche, daß man christlich sein könne, ohne eine Entscheidung gefällt zu haben. … Ganz anders der Mensch, der eine wirkliche Entscheidung als Christ getroffen hat: er ist ein verbindlich lebender Jünger Jesu, er lebt im Bewusstsein einer festen Gewißheit, er geht seinen Weg, auf dem er Erfahrungen mit der Führung durch Gott macht, auf dem Konflikte und Probleme gelöst werden oder ihre Bedrohung verlieren – er hat Frieden.34 Das schreibt er im März 1977 und hat damit sicherlich auch seine eigene Lebensführung beschrieben. 

Seine letzte Predigt hatte er zu diesem Zeitpunkt schon gehalten: Zum 20. Kirchweihjubiläum der Johanniskirche im Advent 1976. Am 30. Juli 1977 ist er gestorben, nur wenige Tage nach dem Unfalltod seiner Tochter Angelika. Die kirchliche Todesanzeige im Stader Tageblatt fasst sein Wirken gut zusammen: Als Pastor an St. Wilhadi förderte er die Gründung der Johannisgemeinde. Unter seiner Verantwortung wurden die Johanniskirche, der Johanniskindergarten und das Johannisaltenheim gebaut. Er hatte die Gabe, Menschen in den Dienst des Herrn zu rufen. Durch Wort und Schrift wirkte er bis zu seinem Tode für seinen Herrn und Heiland Jesus Christus. Wir danken Gott mit unseren Gemeinden und Johannisheimbewohnern für diesen tatkräftigen Pastor und Zeugen des Evangeliums.35

In der Johannisgemeinde hat das Haushalterschaftsdenken noch lange nachgewirkt. Als 1981 zum 25jährigen Jubiläum der Kirche eine kleine Festschrift erschien, trug der erste Artikel die Überschrift „Haushalterschaft auch heute“. Vieles lief gut weiter. Die Johannisgemeinde war die größte der vier Stader Kirchengemeinden, aber sie hatte auch den besten Kirchenbesuch und das höchste Kollektenaufkommen. Mitte der achtziger Jahre begann die Gemeinde mit dem Vorkonfirmandenunterricht im 4. Schuljahr, der in Anlehnung an das „Hoyaer Modell“ auf die Mitarbeit von Eltern angewiesen war und ist. Heute läuft das Projekt unter der Firmierung KU4, aber es gelingt jedes Jahr von neuem, Eltern für die Mitarbeit zu gewinnen – sei es in den regelmäßigen Kleingruppen, sei es bei Konfirmandenfreizeiten. Inzwischen hat diese Arbeitsform ihre eigene Tradition entwickelt. Gerade in der Anfangszeit könnte es eine Rolle gespielt haben, dass die Bereitschaft zu ehrenamtlicher Mitarbeit in einer Haushalterschaftsgemeinde besonders ausgeprägt war.

Auch andere Formen der Arbeit aus der Frühzeit haben sich erhalten – so der sonntägliche Begrüßungsdienst und der Altarfrauenkreis. Allerdings hat die Gemeinde auch lange Zeit sorgfältig darauf geachtet, ihre Mitarbeiterschaft zu pflegen, vor allem durch regelmäßige Geburtstagsbesuche. Sicher hat es eine Rolle gespielt, dass das Haushalterschaftsdenken jedenfalls in seiner späteren Ausprägung ein theologisch elastisches Konzept darstellt. Für Gottes Gnadengaben dankbar sein und mit ihnen verantwortlich umgehen – das ist quer durch die Bandbreite theologischer Orientierungen möglich. In diesen Begriffen kann sich ein Vertreter der klassischen Versöhnungslehre ebenso gut verorten wie ein Liberaler, dessen Denken um die Bergpredigt Jesu kreist. Die Johannisgemeinde hat eine Reihe sehr unterschiedlicher Pastoren gehabt, die ihrerseits die Gemeinde auf je eigene Weise geprägt haben. Das Haushalterschaftsdenken blieb lange Zeit ein wenig hinterfragter Leitbegriff. Bis heute gibt es aktive Gemeindeglieder, die den Namen Georgi und auch die Tradition der Haushalterschaft hochhalten. 

1. Heute orientiert sich der englische Gebrauch von „Stewardship“ eher an Texten wie Gen 2, 15 – dem Auftrag zum verantwortlichen Umgang mit der Schöpfung. Das ist Mitte des vorigen Jahrhunderts noch nicht im Blick.

2 Dies war der Titel eines Hauptvortrags von Anders Nygren gewesen. 

3. Curt GEORGI, Christsein mit Erfahrung. Von der Gruppenbewegung zum Marburger Kreis, Gladbeck 1970, S 14

4. Theologische Literaturzeitung 1941, 66. Jahrgang, Nr 5/6, Sp 151-1525

5. Brief vom 2. 7. 40, Archiv des Kirchenkreises Burgwedel

6. Brief Georgi vom 6. 11. 40 an Superintendent, Archiv Kirchenkreis Burgwedel 

7.Aktenvermerk vom 2. Oktober 1945, Archiv des Kirchenkreises Burgwedel

8. Brief Georgi vom 6. 11. 40 an Superintendent, Archiv Kirchenkreis Burgwedel

9. Bestallungsurkunde vom 18. 9. 1944, Personalakte Georgi, Landeskirchliches Archiv Kiel

10. Visitationsbericht Superintendent Grotjahn vom 7. 12. 1947, Personalakte Georgi, Archiv St. Wilhadi Stade

11. Undatierte Beurteilung Superintendent Grotjahn 1951, Personalakte Georgi

12. Brief vom 27.3. 1951, Personalakte Georgi, Archiv St. Wilhadi Stade

13. Schreiben vom 2. 12. 1950, Archiv St. Wilhadi

14. Stader Tageblatt 18. 5. 1968

15. Stader Tageblatt 17. 10. 1953

16. Stader Tageblatt 13. 12. 1952

17. Stader Tageblatt 22. 8. 1953

18. Stader Tageblatt 20. 5. 1967

19. Stader Tageblatt 24. 12. 1954

20. Stader Tageblatt 18. 11. 1952

21 Offizieller Bericht der Zweiten Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes, Hannover 1952, nachgedruckt als: Studiendokumente.Das lebendige Wort in einer verantwortlichen Kirche, Hannover 1952, S. 152 – 154

22. Lutherischer Weltbund S. 153

23. Lutherischer Weltbund S. 163

24. Lutherischer Weltbund S. 167 – 169

25. Stader Tageblatt 31. 10/1. 11. 1953

26. Curt GEORGI, Hans Bruns – sehr direkt, Gießen 1974, S. 35

27.Beurteilungsnotiz Superintendent Glawatz vom 19. 4. 1964, Archiv St. Wilhadi Stade

28. Aktennotiz Georgi vom 31. 12. 1955, Archiv Johannis Stade

29. Lutherischer Weltbund, S. 171/2

30. Protokoll der zweiten (!) Kirchenvorstandssitzung der neuen Gemeinde vom 19. 12. 1958, Protokollbuch S. 5, Archiv Johannisgemeinde

31. wie Anmerkung 27

32. Stader Tageblatt 3. Mai 1961

33. Stader Tageblatt 31. Oktober 1970

34. Stader Tageblatt 2. März 1970

35. Stader Tageblatt 2. August 1977

 

 

 

 

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Stimme von Pastor Georgi

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Foto: Superintendent Krusius, Pastor Georgi, Landesbischof Lilje